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3
„Dabei hatte ich gerade gedacht, es könne nicht mehr schlimmer kommen!“, stieß ich hervor. Hinter mir fluchte der geisterhafte Antonio auf den Vampir, der mir den Weg versperrte.
„Hallo!“, sagte ich zu ihm. „Sie müssen Melissandes Cousin sein. Wir haben Sie nicht so schnell zurückerwartet. Ich bin... äh... Sie hat mich gebeten... äh... Sie fragen sich wahrscheinlich, was ich hier mache, hm?“
„Blutbesudeltes Stacheltier!“, beschimpfte Antonio den Eindringling und zog seinen Degen. „Nicht genug damit, dass ich diesen anderen Übeltäter ertragen muss, der meine teure Allegra für sich beansprucht, jetzt kommst du auch noch da'er und willst mir meine wahre Liebe streitig machen!“, polterte er. „Wie 'eißt du, mein Engel?“, raunte er mir zu.
„Äh... „
„Jetzt reicht es mir! Ich werde nicht zulassen, dass du mir diese wunderschöne Ah mit den prächtigen Brüsten wegnimmst! Sie ge'ört mir, ganz und gar!“
Der Vampir, der dem Geist mit amüsierter Miene zugehört hatte, zog eine Augenbraue hoch und ließ seinen Blick über meine Brüste schweifen. Unverschämt und unmoralisch, wie sie waren, versuchten sie auch noch, sich ihm entgegenzurecken. Ich verschränkte rasch meine Arme und funkelte sowohl Antonio als auch den Vampir böse an, während ich meinem Körper klarmachte, dass ich mich, wie gut der Vampir auch aussah, niemals mit jemandem einlassen würde, der nach allem, was ich wusste, untot war.
„Hören Sie, ich weiß, wie merkwürdig es Ihnen vorkommen muss, dass ich hier in Ihrer Bibliothek herumstöbere, aber ich kann es Ihnen erklären.“
„Mach, dass du fortkommst, du gottlose wandelnde Leiche, sonst schneide ich dir deine Männlichkeit ab und stopfe sie dir ins Maul!“ Antonio schwang seinen Degen und schwebte zwischen mich und den Vampir. Wäre seine Waffe real gewesen, hätte er uns wahrscheinlich beide getötet.
Christian schloss die Augen. „Das hat mir gerade noch gefehlt, ein antagonistischer Geist!“, sagte er. „Verschwinde! Du bist hier nicht gefragt!“ Er fuhr mit der Hand mitten durch den Geist - und erstaunlicherweise begann Antonio sich aufzulösen.
„Ich bin nicht antagonistisch! Ich für meinen Teil bin immer'in jeden Morgen zur Messe gegangen!“ Antonio ließ den Degen durch die Luft sausen, zweifelsohne in der Absicht, den Vampir zu kastrieren, doch dann merkte er offensichtlich, dass er im Begriff war, dahinzuschwinden, denn er ballte eine Hand zur Faust.
„Basta! Ich werde die anderen rufen! Sie schauen gerade Angel-DVDs, aber deinetwegen werden sie ein Weilchen auf ihren ’eiß geliebten Spike verzichten, du widerlicher Kotz...“
„Der Exorzismus hat doch einiges für sich“, murmelte Christian leise vor sich hin, während Antonio sich in Luft auflöste.
„Ich dachte, man kann nur Dämonen austreiben... oder den Leibhaftigen?“
Zwei strahlend blaue Augen nahmen mich ins Visier und verengten sich zu Schlitzen, während sie mich von oben bis unten musterten. Ich trat nervös ein paar Schritte zurück und ließ rasch die gestohlenen Notizen mitsamt dem Ohrring in der Gesäßtasche meiner Hose verschwinden. Falls Christian es mitbekam, glaubte er hoffentlich, die Sachen gehörten mir. Ich wusste nicht so genau, ob er damit einverstanden sein würde, dass Melissande sie an sich nahm, aber das sollten die beiden lieber unter sich ausmachen.
„Wer sind Sie?“, fragte Christian. In seiner tiefen, rauen Stimme schwang etwas mit, das mir einen kleinen Schauder über den Rücken jagte.
„Ich bin... äh... Ihre Cousine Melissande hat mich engagiert.“
Er machte zwei Schritte auf mich zu, sodass sich unsere Nasen fast berührten. „Melissande ist nicht meine Cousine und ich werde meine Frage nicht noch einmal wiederholen“, sagte er drohend und zeigte beim Sprechen seine spitzen weißen Zähne. Dieser Anblick brachte mich auf eine Idee, die so verblüffend war, dass mein Gehirn sie verarbeitete, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, in was für einer prekären Lage ich mich gerade befand.
„Wissen Sie, ich habe immer gedacht, dass Vampire ihre Zähne wieder einziehen können, wenn sie nicht gerade Gebrauch von ihnen machen. Kobras haben doch auch ausfahrbare Giftzähne - jederzeit einsatzbereit, ohne störend im Weg zu stehen.“
Die meisten Dunklen können das. Christians Stimme hatte etwas beinahe Ätherisches. Sie schien so allgegenwärtig, dass ich sie nicht nur hörte, sondern zugleich auch in meinem Kopf spürte.
„Aber Sie nicht?“ Mein Blick fiel auf das rote Linienmuster, das sich um den Oberkörper des Vampirs zog. Es wirkte ebenso verblichen wie das grüne Muster auf dem Buchrücken und war nur schwer zu erkennen. Es schimmerte leicht und je nach Blickwinkel schien es aufzutauchen und wieder zu verschwinden. Ich wusste sofort, was es war. Manche Dinge sind so schrecklich, dass man sie nicht verdrängen kann, wie sehr man sich auch bemüht. „Liegt das vielleicht an dem Fluch, der auf Ihnen lastet?“
Christian starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an und ich wusste, dass ich zu weit gegangen war. Melissande hatte zwar gesagt, der Vampir würde mir nichts tun, doch was hieß das schon? Wenn er richtig sauer war, ging er mir vielleicht doch an den Kragen. Was haben Sie gesagt?
„Ach, nichts“, entgegnete ich und wich zur Seite. „Ist nicht wichtig. Wissen Sie, Melissande wartet draußen. Warum holen wir sie nicht dazu, damit sie Ihnen die ganze Geschichte erklären...“
„Sie haben mich gehört!“, sagte er, als wolle er mir einen Vorwurf daraus machen, und packte mich am Arm.
„Aua!“, rief ich empört, woraufhin er seinen Griff etwas lockerte. „Ja, ich habe Sie gehört. Ich stehe ja direkt vor Ihnen!“
Sie haben gehört, was ich gerade über Dunkle gesagt habe.
„Klar. Ich bin doch nicht taub! Ich verstehe ja, dass Sie sich über mein unbefugtes Eindringen ärgern, aber ich habe Melissande versprochen ...“
Das ist unmöglich! Sie sind keine Mährin. Sie sind keine Telepathin, und trotzdem hören Sie mich. Er zog mich ganz dicht an sich und seine Brust war so heiß, dass ich das Gefühl hatte, sie versenge mir den Arm. Sie können den Fluch sehen?
„Ja, ich kann ihn erkennen, aber nicht sehr deutlich. Wenn ich ihn direkt ansehe, verschwindet er. Ich muss ihn praktisch schräg angucken, dann kann ich das Muster... Oh mein Gott! Ihre Lippen haben sich gerade gar nicht bewegt!“ Mir dämmerte eine furchtbare Erkenntnis und es überlief mich kalt. „Was ist hier los? Warum kann ich Sie sprechen hören, obwohl Sie den Mund nicht bewegen? Sie sind doch kein Vampirbauchredner, oder?“
Er schüttelte den Kopf. „Das kann nicht wahr sein!“
„Ich weiß, wie Ihnen zumute ist“, sagte ich seufzend. „Dieses Gefühl habe ich schon den ganzen Tag, seit der Begegnung mit dem Kobold, aber ich habe aufgehört, das alles verstehen zu wollen, und nehme die Dinge einfach, wie sie kommen. Hören Sie, Christian...“
Er runzelte die Stirn und seine warmen, kräftigen Finger gruben sich in meinen Arm. „Warum nennen Sie mich so? Ich bin nicht Christian Dante.“
Ich erstarrte wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange. Ich wagte nicht einmal zu atmen. „Sind Sie nicht?“
„Nein.“
„Aber Sie sind ein Vampir.“
Er verzog genervt das Gesicht. „Ein Dunkler. Ich bin ein Dunkler.“
„Wie auch immer. Was machen Sie hier, wenn Sie nicht Christian sind, der Besitzer dieses Schlosses?“
„Das könnte ich Sie auch fragen. Vor allem wüsste ich gern, warum Sie meine Gedanken hören können und wie es möglich ist, dass Sie den Fluch sehen, der auf mir lastet.“
„Ja, aber ich habe zuerst gefragt. Wer sind Sie und was machen Sie hier?“
Er musterte mich eine ganze Weile, dann ließ er meinen Arm los und sah sich in der Bibliothek um. „Melissande hat Sie engagiert. Sie sind hier und suchen offensichtlich dasselbe wie ich. Sie können meine Gedanken hören. Sie können meinen Fluch sehen.“ Er hielt inne und zeigte auf eine meergrüne Vase. „Was sehen Sie da?“
„Eine Vase?“ Er marschierte auf mich zu und ich huschte in die entgegengesetzte Richtung davon, also direkt auf die Vase zu. „Eine grüne Vase. Sehr hübsch. Sieht wertvoll aus.“
„Sehen Sie genauer hin!“, befahl er und seine Augen wurden plötzlich indigoblau. Ich hätte zu gern gewusst, wie er das machte, doch vermutlich war der Zeitpunkt denkbar ungünstig, um ihn über die Tricks und Kniffe der Vampirspezies auszufragen. Also betrachtete ich wieder die Vase und fragte mich, ob man einen Vampir ausknocken konnte, wenn man ihm mit so einem Tongefäß eins über den Schädel gab.
„Man braucht weitaus mehr als eine Vase, um mich bewusstlos zu schlagen. Denken Sie nicht mal dran! Und jetzt sehen Sie sich die Vase aufmerksam an und sagen mir, was Sie sehen!“
Ich behielt meine Überraschung darüber, dass er wusste, was ich dachte, für mich und spielte mit dem Gedanken, ihm jede Antwort zu verweigern, doch er kam mir bedrohlich nah, und ich tat schleunigst wie mir befohlen. „Es ist eine Vase. Ungefähr dreißig Zentimeter hoch, mit einem goldenen Rand und verschiedenen Motiven.“
„Beschreiben Sie die Motive“, verlangte er und durchbohrte mich förmlich mit seinem Blick.
„Fische“, stieß ich verzweifelt hervor. Ich wollte nur noch weg, weg von diesem furchterregenden, dominanten, unheimlichen Vampir. „Da sind Fische drauf. Sieht griechisch aus oder so.“
In seinem Gesicht spiegelte sich Enttäuschung und er wandte sich von mir ab. Ich verspürte den Anflug eines schlechten Gewissens, als hätte ich ihn enttäuscht. Aber was spann ich mir da nur zusammen? Er war ein Vampir! Das bedeutete in jedem Fall Ärger. Es spielte keine Rolle, dass ich anscheinend nicht das gesagt hatte, was er hören wollte. Doch... aus irgendeinem Grunde war es mir wichtig. Ich bekam Mitleid mit ihm, als mein Blick erneut auf das rote Muster fiel, das sich um seinen Oberkörper zog. Auch ein Vampir hatte das Recht, missgelaunt zu sein, dachte ich, wenn der Fluch eines Dämonenfürsten auf ihm lastete.
Ich schaute wieder zu der Vase, behielt aber auch den Vampir im Auge, damit er mich nicht unversehens packte und zu seinem späten Abendessen machte. Er tat mir zwar leid, aber ich war ja nicht völlig plemplem. „Die Fische sind in mehreren Schwärmen angeordnet. Das Meer ist mit Wellen angedeutet und die Linien sind ähnlich verschnörkelt wie bei dem Muster, das ich auf dem Buchrücken...“ Ich klappte den Mund zu, erschrocken über das, was ich gesagt hatte und vor allem über das, was es zu bedeuten hatte.
Der Vampir drehte sich ruckartig zu mir um und sein Blick ließ mich zur Salzsäule erstarren. „Sie können den Bann wirklich sehen?“
„Ah ... kann schon sein.“
„Schau an“, murmelte er und blickte an sich herunter auf das rot schimmernde Muster um seinen Bauch. „Melissande hat tatsächlich eine Bannwirkerin aufgetrieben. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass sie Hilfe findet.“
„Nun, das hat sie auch nicht“, erwiderte ich rasch, als er mich erneut mit einem Blick aus seinen blauen Augen durchbohrte. „Ich würde liebend gern helfen, aber ich kann nicht. Ich kann keine Flüche brechen, will ich damit sagen. Meine übernatürlichen Kräfte sind verkümmert, verstehen Sie? Aber ich habe Melissande versprochen, ihr bei der Suche nach ihrem Neffen zu helfen, indem ich in Christians Bibliothek herumschnüffele, und genau das habe ich gerade getan. Und nachdem ich Ihnen jetzt alles gesagt habe, sind Sie an der Reihe.“
„Damian“, sagte er und das Blau seiner Augen verdunkelte sich wieder. Ich war drauf und dran, alle Bedenken in den Wind zu schlagen und ihn endlich zu fragen, wie er das machte, als er unvermittelt in Aktion trat. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah: Gerade hatte ich noch vor dem Bücherschrank gestanden, und im nächsten Moment wurde ich gepackt und mit eisernem Griff gegen die Wand gedrückt. „Sie werden mir alles erzählen, von Anfang an. Was hat Melissande Ihnen gesagt?“
„Ich muss Sie warnen, ich bin eine richtige Vampirexpertin. Ich habe alle Folgen von Buffy, Angel und Nick Knight gesehen, also bilden Sie sich bloß nicht ein, Sie könnten mir mit ein bisschen Zähnefletschen Angst machen“, begann ich, doch als ich die spitzen weißen Schneidezähne aus nächster Nähe sah, verließ mich der Mut und ich war bereit, zu reden wie ein Wasserfall. Die Macht und Entschlossenheit, die er ausstrahlte, signalisierten mir, dass er töten würde, um das in Erfahrung zu bringen, was er wissen wollte. Hätte ich irgendwelche Staatsgeheimnisse preiszugeben, wäre ich auf der Stelle zur Vaterlandsverräterin geworden. „Sie hat mich engagiert, um einen Fluch zu brechen, aber da ich so etwas nicht kann, hat sie mir einen Brustpanzer versprochen, wenn ich hier irgendwelche Notizen finde, die ihr Bruder gefunden hat und die Aufschluss über Damians Aufenthaltsort geben - bloß war mir nicht klar, dass es sich um unbefugtes Eindringen handelt, weil sie sagte, das Schloss gehöre ihrem Vampircousin, der nichts dagegen hätte, obwohl er, wie wir feststellen mussten, bei seiner Abreise die Tür mit einem Bann versehen hat, sodass Melissande das Schloss nicht betreten konnte, und wenn ich es mir recht überlege, dürften Sie, da sie doch auch ein Vampir sind, eigentlich gar nicht hier sein, oder? Wegen des Banns, meine ich.“
„Nur die Türen und Fenster sind geschützt, und durch die bin ich nicht hereingekommen.“
„Oh. Und wie sind Sie dann hereingekommen?“ Er ignorierte meine Frage und runzelte die Stirn. Weil er mir so nah war, musste mein Verstand meinen Körper zur Ordnung rufen. Ich sagte mir ein ums andere Mal, dass er ein Vampir war, ein Mann, der sich nicht mit einem Date zufrieden gab, wenn er auf die Jagd ging. Ich könnte seine nächste Mahlzeit sein, um Himmels willen! Das versuchte ich meiner Libido klarzumachen, aber es half alles nichts: Ich fand den Kerl, der vor mir stand, äußerst sexy. Er war groß - größer als ich, und ich bin nicht gerade ein Zwerg -, hatte herrlich breite Schultern und eine Brust, über der meine innere Nell in mädchenhafte Verzückung geriet. Das herrlich rotbraune Haar reichte ihm bis auf den Kragen. Die rötlichen Stoppeln an Kinn und Wangen ließen meine eben noch mädchenhafte Verzückung zu sehr viel weniger mädchenhaftem Verlangen werden. Seine Augenfarbe wechselte von Himmelblau zu Blauschwarz, sodass die Pupillen kaum noch von der Iris zu unterscheiden waren. Aber was mich wirklich davon abhielt, einen Fluchtversuch zu unternehmen, war etwas anderes; etwas, das viel tiefer ging. Ich spürte, dass dieser Mann, dieser Vampir, in argen Nöten war, und aus seinem Inneren erreichte mich ein Hilferuf, der mir zu Herzen ging. Ich schaute ihm in seine wunderschönen Augen und mit einem Mal verschlug es mir den Atem, denn ich erkannte das wahre Wesen der Finsternis in ihm.
In diesem Moment war es um mich geschehen. „Tief durchatmen und den Kopf unten lassen!“ Die Worte klangen schroff, und doch empfand ich sie seltsamerweise als beruhigend. Ich kam wieder zu Bewusstsein und merkte, dass ich auf dem Boden saß und den Kopf zwischen den Knien hatte. Ich sah verschwommen meine Schuhe vor mir, doch das Bild drehte sich noch eine ganze Weile, bevor es zum Stillstand kam und meine Übelkeit sich legte. Ich sah den Vampir entgeistert an. „Du hast keine Seele!“ Das „Du“ kam mir wie von selbst über die Lippen.
„Nein“, entgegnete er nüchtern. „Geht es dir wieder besser?“ Aha, auch er begann mich zu duzen.
„Ja. Ich bin noch nie in Ohnmacht gefallen. Allerdings habe ich auch noch nie einem Mann in die Augen gesehen und direkt in die Hölle geblickt, also ist es wohl in mehrfacher Hinsicht ein erstes Mal. Da mir nichts wehtut, nehme ich an, du hast mich aufgefangen, als ich umgekippt bin?“
„Ja. Kannst du aufstehen?“ Er reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen.
Ich dachte kurz daran, wie es wohl sein mochte, in seinen Armen zu liegen, doch dann nahm ich mich zusammen und stand auf. „Klar. Ich fühle mich zwar noch etwas wacklig auf den Beinen, aber ansonsten ist alles okay. Hör mal, was ich da gerade über deine Seele gesagt habe, das tut mir leid. Daran wirst du bestimmt nicht gern erinnert.“
„Komm“, sagte er nur und hielt mir die Tür auf.
„Sofort, lass mich nur noch die Zettel aufheben. Ich glaube, da steht etwas über den Ort drauf, an dem Melissandes Neffe festgehalten wird.“ Die Notizblätter lagen verstreut auf dem Boden. Ich hatte keine Ahnung, wie sie mir aus der Tasche hatten rutschen können, aber mein Gehirn, jetlaggeschädigt und ohnehin schon dem Durchglühen nahe, befand, dass es sich nicht lohnte, dieser Frage nachzugehen.
Der Vampir schaute zum Fenster. Durch einen Spalt zwischen den schweren Vorhängen sah ich, dass die Morgendämmerung eingesetzt hatte. „Lass sie liegen“, sagte er. „Die brauche ich nicht. Ich weiß, wo Damian ist.“
„Das weißt du? Großartig! Dann sag es Melissande. Sie wartet draußen auf mich. Ah... wir gehen aber in die falsche Richtung. Ihr Auto steht hinter dem Schloss. Da, wo dieses große Mausoleum ist.“
„Wir wollen gar nicht zu Melissande.“
Ich blieb ruckartig stehen, doch der Vampir packte mich am Handgelenk und schleifte mich hinter sich her. „Moment mal!“, rief ich.
„Melissande versucht verzweifelt, ihren Neffen und ihren Bruder zu finden. Wenn du weißt, wo Damian ist, musst du es ihr sagen, damit sie die beiden retten kann.“
„Saer braucht keine Hilfe.“ Seine Augen wurden jetzt eisblau und sein Blick war so kalt, dass ich befürchtete, Gefrierbrand im Gesicht zu bekommen. Ich versuchte, ihm meinen Arm zu entwinden, doch er zog mich einfach wie einen Sack Kartoffeln durch die leere Eingangshalle. Ich hasse rücksichtslose Vampire!
„Du kennst Saer?“
„Ja. Hör auf, dich zu wehren! Du kannst nicht entkommen.“
„Ha! Dann pass mal auf!“, rief ich und hielt mich an der nächstbesten Ritterrüstung fest.
Der Vampir drehte sich wütend zu mir um. Da hatte er mich auch schon gepackt und hochgehoben. Mit einem Schlag wurde mir die Luft aus der Lunge gepresst, als er mich kurzerhand über seine Schulter warf und losmarschierte.
„Hey!“, schrie ich und riss meinen Blick von dem faszinierenden Anblick los, den sein Hintern mir kopfüber bot, um mit den Händen auf seinen Rücken zu trommeln. „Lass mich runter! Mir fließt das ganze Blut in den Kopf!“
„Vielleicht bringt das ja etwas“, murmelte er und öffnete eine Holztür. Ich wurde heftig durchgeschüttelt, als er mit mir eine lange Treppe hinunterstürmte.
„Das habe ich gehört! Jetzt lass mich runter und wir reden in Ruhe über deine Entführungspläne.“
„Nein. Hör auf herumzuzappeln, sonst sehe ich mich gezwungen, dich zu züchtigen!“
„Mich züchtigen?“, fragte ich seinen Hintern, an dem ich mich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, gar nicht sattsehen konnte. Verpackt in eine enge schwarze Jeans, war er bei jeder Bewegung herrlich anzuschauen. „So, so. Wie denn? Willst du mir vielleicht ins Bein beißen?“
Ohne zu antworten, stampfte er weiter die Treppe hinunter, und im nächsten Moment verspürte ich einen stechenden Schmerz im Oberschenkel.
Bis ins Mark erschüttert (und zugleich seltsam erregt), bäumte ich mich auf. „Oh, mein Gott! Du hast mir ins Bein gebissen! Du hast von meinem Blut getrunken! Was bildest du dir eigentlich ein? Ich bin doch kein Pausensnack!“
Du bist weit mehr als das. Du bist ein Zwölf-Gänge-Festtagsmenü.
„Oh!“, fuhr ich auf und trommelte ihm wieder auf den Rücken. „Lass das sein! Aber sofort! Hör auf, mir ständig etwas einzuflüstern, und beiß mir bloß nicht noch mal ins Bein! Lass mich runter!“
„Nein.“
Er rannte einfach weiter, ohne sich auch nur im Geringsten um mein Wohlergehen zu scheren. Er hielt nicht einmal an, als er am Fuß der Treppe ankam, sondern marschierte direkt weiter in ein pechschwarzes Gewölbe, bei dem es sich vermutlich um den Schlosskeller handelte. Im schwachen Schein des Lichts, das durch das Treppenhaus nach unten drang, konnte ich steinerne Statuen erkennen, die mich seltsam lebendig anmuteten.
Allmählich begann ich mir Sorgen zu machen. Eine kleine Rangelei mit einem Vampir war eine Sache, aber wenn er mich in seine Krypta schleppen wollte... Bei dem Gedanken, lebendig begraben zu werden, stockte mir der Atem. Das war mein schlimmster Albtraum! „Du zerquetschst mir den Magen! Ich muss mich übergeben, wenn du mich nicht runterlässt!“
Diese Drohung zeigte Wirkung. Er blieb stehen und setzte mich ab, hielt mich aber am Handgelenk fest, während ich meinen ersten tiefen Atemzug machte, seit er mich auf seine Schulter gepackt hatte. „Puh! Das ist schon besser. Und was diese... „
„Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Die Sonne geht auf. Komm!“
„Weißt du, ich kann gehen und gleichzeitig reden. Ich wette, wenn du dein Vampirhirn ein bisschen anstrengst, kannst du das auch. Und mir ist schon klar, dass du es eilig hast, deinen Hintern in Sicherheit zu bringen...“ - diesen unglaublich knackigen Hintern - „...aber ich werde nicht von hier verschwinden, ohne Melissande wissen zu lassen, wo ihr Neffe ist. Sie ist krank vor Sorge um ihn.“
„Trotzdem lasse ich dich nicht zu ihr“, entgegnete er grimmig und zog mich in einen schmalen Gang. Ein metallisches Klicken war zu hören, als er ein altes Sturmfeuerzeug aufklappte, dessen blaue Flamme ziemlich hoch eingestellt war. Dennoch konnte ich kaum etwas sehen. Ich erkannte lediglich, dass wir uns in einem feuchten, muffigen Tunnel befanden, der endlos lang zu sein schien. Nachdem der Vampir mich ein paar Meter hinter sich hergeschleift hatte, bemerkte ich, dass aus dem Stein- ein Sandboden wurde, der wiederum nach einer Weile festgetretenem, mit Wurzeln durchzogenem Lehm wich.
Aus meiner Besorgnis wurde Wut, während er mich immer tiefer ins Innere des Schlosses zerrte. Was fiel ihm ein, die arme Melissande im Ungewissen zu lassen, wo doch nur ein Wort von ihm genügte, um ihr zu helfen? „Du herzloser Blutsauger! Wie kannst du nur so egoistisch sein?“
„Egoistisch?“ Der Vampir sah mich abschätzig an.
„Ja, egoistisch. Ich bin nicht dumm, weißt du. Ich habe sehr wohl gemerkt, was in dir vorging, als dir dämmerte, dass ich eine Bannwirkerin bin - nicht dass ich tatsächlich eine wäre, aber Melissande glaubt eben daran. Ich soll den Fluch brechen, der auf dir lastet, nicht wahr?“ Ich stolperte über eine dicke Baumwurzel, die aus dem Erdreich hervorragte. Er fing mich auf und schlang einen Arm um meine Taille. Mein Körper schrie danach, sich der Umarmung hinzugeben, aber ich verdrängte das Verlangen, denn schließlich hatte er mich ja nur vor einem Sturz bewahren wollen. „Du willst, dass ich dir deine Probleme vom Hals schaffe!“
„Ja.“
Die Kälte, mit der er dieses eine Wort aussprach, ließ mich erschaudern.
„Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Ich kann keine Flüche brechen. Ich bin nur hier, um Melissande zu helfen... und genau das solltest du auch tun. Das Leben eines kleinen Jungen steht auf dem Spiel und du bist zwar alles andere als nett, nicht einmal höflich, aber so ein Monster kannst du doch gar nicht sein, dass dir so etwas egal wäre!“
„Woher willst du wissen, dass ich kein Monster bin?“
Tief in seinen Augen glomm etwas auf und mein Inneres reagierte erneut mit Wärme auf seinen stummen Ruf. „Red keinen Unsinn! Wenn du ein Monster wärst, hättest du mir schon längst in die Kehle gebissen oder mich zu deiner Königin der ewigen Nacht gemacht. Du bist nur ein Mann, kein Monster. Zwar einer mit richtig spitzen Zähnen und Händen wie Schraubstöcken, aber trotzdem verpflichtet dich das Gebot der Menschlichkeit dazu, Melissande zu helfen.“
Er marschierte unbeirrt weiter, ohne sich zu mir umzudrehen. „Sie würde meine Hilfe nicht begrüßen.“
„Aber... „
„Nein!“ In dem Wort lag eine Endgültigkeit, als wäre es in Stein gehauen. Ich sah ihn wütend an und schwor mir, ihm die Informationen über den Jungen zu entlocken, sobald sich mir eine Gelegenheit bot, und sie an Melissande weiterzugeben.
„Hier entlang.“ Er trat in eine stockdunkle Nische und ließ mich los, um eine schwere, von Wurzeln umrankte Steintür zu öffnen, indem er sich mit seinem ganzen Gewicht dagegenwarf. Sie gab unter quietschendem Protest nach und wir betraten eine kleine Kammer, die von einem grässlichen Knirschen erfüllt wurde, als der Vampir die Tür langsam wieder zuschob. Ich stolperte über einen dicken Stein, den ich im schwachen Lichtschein des Feuerzeugs nicht gesehen hatte.
„Wer bist du?“ Noch während ich sprach, ließ das ohrenbetäubende Geräusch der über den Felsboden schrammenden Steintür die Wände förmlich erbeben, bis es schließlich mit einem letzten fürchterlichen Knarzen erstarb. Die Tür war zu und der Vampir drehte sich zu mir um.
„Wer bist du, wo sind wir und warum hast du mich gekidnappt?“
Er suchte eine Weile auf dem Boden herum, bis er ein etwa armlanges Wurzelstück fand. Es musste ganz trocken gewesen sein, denn es fing schnell an zu brennen, als er das Feuerzeug darunterhielt. Er hob das lodernde Holz wie eine Fackel über seinen Kopf, und sein Schatten tanzte über die grob behauenen Felswände hinter ihm.
„Mein Name ist Adrian Tomas, das hier ist eine kleine Kammer, die von dem Tunnel abgeht, der zu dem Geheimversteck des Schlosses führt, und ich habe dich mitgenommen, damit du den Fluch brichst, mit dem der Dämonenfürst Asmodeus mich belegt hat.“
„Adrian?“, flüsterte ich. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. „Adrian der Verräter? Der seine eigenen Leute an Asmodeus ausliefert, wo sie endlose Qualen und ein furchtbarer Tod erwarten? Dieser Adrian?“
„Ja“, entgegnete der Vampir, und seine spitzen Zähne blitzten im Schein der brennenden Fackel auf, als er mich grimmig anlächelte. „Ich bin der Verräter, und du, Bannwirkerin, bist meine Gefangene.“